Stephan Schulmeisters Lange-Zyklen-Modell: vom Realkapitalismus zum Finanzkapitalismus and Back Again

Unser Gespräch mit Stephan Schulmeister ist online:

Stephan Schulmeisters Arbeiten waren eine wichtige Quelle für uns bei unserem Versuch, über eine schlüssige Theorie kapitalistischer Geldwirtschaft als historisch spezifische, westliche Gesellschaftsform hinaus auch deren Entwicklungen seit der Finanzkrise von 2008ff. besser verstehen und einordnen zu können. Schulmeister ragt für uns aus dem Gros der postkeynesianischen Ökonomie v.a. auch deshalb weit heraus, weil er – wie sein Vorbild Keynes – eine sehr breit angelegte theoretisch-makroökonomische und historische Perspektive auf die gegenwärtige Situation [des westlichen Kapitalismus] mit einem detaillierten, umfassenden Reformplan kombiniert, der die Reformen nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er – den New Deal und die Nachkriegsordnung von Bretton Woods – auf die heutige Situation überträgt.  

Einen guten einführenden Vortrag in seine Sicht der Dinge von Schulmeister selbst gibt es auf unserem youtube-Kanal. In aller Kürze zusammengefaßt: In seiner Lange-Wellen-Theorie, die er über die letzten 20 Jahre in einer Reihe von downloadbaren Papers und einem Büchlein entwickelt und jetzt in seinem Hauptwerk „Der Weg zur Prosperität“ zusammengefaßt hat, zieht Schulmeister Parallelen zwischen der Entwicklung der 20er Jahre (Finanzkapitalismus) mit dem Börsenkrach von 1929 mit anschließender Weltwirtschaftskrise, und der Entwicklung der 2000er (Finanzkapitalismus) bis heute. 

Aus dem Lernen aus der Weltwirtschaftskrise enstand eine neue Wirtschaftstheorie – die keynesianische – auf deren Basis dann die institutionelle Spielanordnung des modernen Kapitalismus zunächst mit Roosevelts New Deal und dann nach WK II v.a. durch die Amerikaner komplett umgestaltet wurde (Bretton Woods-System).  Die internationale Finanzwirtschaft wurde reguliert und gebändigt, nicht zuletzt über ein System fixer Wechselkursbandbreiten. Darauf folgte wiederum eine lange „realkapitalistische“ Aufschwungphase, in der es sich für die Unternehmer wieder lohnte, in reale Produktionsmittel zu investieren und dafür Nettogeldvermögen abzubauen, sowie statt mit Finanzkapitalinteressen mit den Interessen der Arbeiterschaft zu kooperieren.  Aus dem Umbau der Spielanordnung nach Weltwirtschaftskrise und WK II lassen sich analoge Aufgaben für die Gegenwart herausanalysieren.

Doch wie die finanzkapitalistische Spielanordnung scheiterte dann auch die realkapitalistische am Ende des langen Aufschwungs der 50er und 60er Jahre an sich selbst – das war die Krise der 70er Jahre mit der Lösung der Goldbindung des Dollar durch Nixon mit anschließender Dollarabwertung und Ölpreisschocks, dem Ende des Bretton Woods-Systems fixer Wechselkursbandbreiten, und Stagflation. In den 1980ern begann dann – ideologisch vorbereitet und flankiert durch Milton Friedmans antikeynesianisch-marktfundamentalistische, „neoliberale“ Neuauflage der Quantitätstheorie, den Monetarismus – eine finanzkapitalistische Abschwungphase, die über den sich in den späten 80ern entwickelnden Casinokapitalismus schließlich zum Kollaps des Sozialismus 1989 und schließlich zum krisenhaften Höhepunkt der Weltfinanzkrise von 2008 führte. Wieder gerieten marktfundamentalistisch-liberale Theorien in eine Krise, es kam zum Aufstieg rechtsnationalistischer Parteien.

Wer sich in aller Kürze in Schulmeisters sehr klare Sicht der Dinge einlesen möchte, dem empfehlen wir über das oben verlinkte Video hinaus auch seine papers, „Die große Krise: Beginn der Talsohle des „langen Zyklus“ oder – etwas ausführlicher – „Finanzkapitalismus und Realkapitalismus: zwei Spielanordnungen und Phasen des langen Zyklus“ und „Der Lernwiderstand der Eliten in einer großen Krise.“ Eine ausführliche Darstellung seiner Reformvorstellungen – einem New Deal für Europa, der das Ziel der Wiederherstellung einer realkapitalistischen Spielanordnung verfolgt – findet sich in aller Kürze hier, und ausführlich hier.

Wir halten Schulmeisters Vorschläge im Kern für richtig und sehen EU und Euro als „das Richtige im Falschen“ – als nötige Entwicklungen unter „falschen“, zu radikal liberalen Vorzeichen. Wir halten aber seine Vorschläge für in der gegenwärtigen geopolitischen und EU-institutionellen Lage doch etwas schwieriger umzusetzen als Schulmeister das darstellt, und sehen für eine wirksame Umsetzung die Notwendigkeit staatlicher Institutionen auf europäischer Ebene (siehe dazu unseren Kommentar zu Heiner Flassbecks unverbindlichem „makroökonomischem Dialog“ als Koordinationsinstrument der nationalen Wirtschaftspolitiken innerhalb der Eurozone).

Wie bei den meisten Keynesianern fehlt aus unserer Sicht auch bei Schulmeister ein klares Bewußtsein für die historisch spezifischen rechtsinstitutionellen Fundamente der Geldwirtschaft mit freier Lohnarbeit („moderner Kapitalismus“, „moderne westliche Zivilsation“), und damit leider auch ein Bewußtsein für die Unterschiede zwischen nationalem, staatlichem Recht, internationalem (sogenanntem) Recht und EU-Recht, sowie ein Bewußtsein dafür, daß keynesianische Nachfragesteuerung nur unter Käufermarktverhältnissen funktioniert, diese aber nach und nach abbaut und so letztlich an sich selbst scheitert (70er Jahre).

Mißverstanden hat Schulmeister bisher noch, inwiefern wir Stützels Werk als „General Theory“ betrachten (58:20 des Videos). Wir verstehen dieses ja gerade nicht als Wirtschaftstheorie, die für alle Zeiten und Kulturen gültig ist, sondern – ähnlich wie Marx – als Theorie der historisch spezifischen modernen europäischen („westlichen“) Zivilisation („moderner Kapitalismus“) mit freier Lohnarbeit . Wir betrachten daher Staat, Aufklärung, Naturrecht, bürgerliches Recht und Demokratie eben auch aus kulturvergleichend-rechtsethnologischer Perspektive: bürgerliches Recht (Eigentum & Vertrag) ist – obwohl es auf universellen Aussagen beruht, die alle Bürger vor dem Recht gleich behandeln – eben selbst nicht historisch, kulturell und geographisch universell oder gar „natürlich“, sondern eine spezifisch westliche Form, menschliche Beziehungen zu organisieren und stammt aus der griechisch-römischen Antike. Bürgerliche Rechtsbeziehungen und „geldwerte Vermögensrechte“ („assets & liabilities“, Vermögen und Schulden) sind keine anthropologischen Konstanten, sondern Erfindungen der westlichen Zivilisation:

Von Menschen hergestellte Dinge sind universell & allgemeinmenschlich, bürgerliche Rechtsbeziehungen sind historisch und kulturell spezifisch, nämlich westlich (römisches Recht).

Mit „General“ meinen wir lediglich: Stützels Modell kann den neoklassischen Fall, in dem Geld als neutraler „numeraire“ keinerlei Rolle spielt, als den Sonderfall des Einnahme/Ausgabe-Gleichschritts identifizieren, zu dem Walras durch implizite (und unrealistische, nicht generalisierbare) Unterstellungen kommt, und dies als Sonderfall in sein Kreislaufmodell integrieren.

Anders als die marx’sche und postkeynesianische Heterodoxie, die sich als Alternative zur Neoklassik versteht, versteht Stützel sein Werk als eines, das – auf rein empirischer Basis – die von Neoklassik, Marx und Keynes/Postkeynesianismus beschriebenen Fälle als Sonderfälle enhält – aber darüberhinaus eben weitere Fälle. Gerade auch die Entstehung der von Marx so unübertrefflich beschriebenen, von Liberalen typischerweise ausgeblendeten und von Keynesianern implizit für selbstverständlich genommenen „stummen Zwänge der (kapitalistischen) Verhältnisse“, von Marktmachtkonstellationen in auf Eigentum und Vertragsfreiheit beruhenden bürgerlichen Gesellschaften wie z.B. Käufermarktspannungen (die auf Arbeitsmärkten bei Unterbeschäftigung – also wenn eine „industrielle Reservearmee“ vorhanden ist – existieren), erklärt Stützel sehr schlüssig, und benennt sogar eine ganze Klasse von Konkurrenzparadoxa nach dem von ihm u.E. hervorragend interpretierten Marx („Marx’sche Paradoxa“, vgl. Grass/Stützel 1988: VWL – eine Einführung auch für Fachfremde, München: C.H. Beck, S. 161-165 und Stützel 1953: Paradoxa der Geld- und Konkurrenzwirtschaft, Aalen: Scientia 1979, S. 375-408; Stützel 1952: Preis, Wert und Macht. Analytische Theorie des Verhältnisses der Wirtschaft zum Staat. Aalen: Scientia 1972).

Trotz alledem fanden wir aber, daß sich Stützels sehr schlüssige Konjunkturtheorie durch Schulmeisters Lange-Wellen-Theorie sehr gut historisch konkretisieren und um institutionelle, wirtschaftspolitische und ideologische Aspekte des „langen Zyklus“ (fixe vs. flexible Wechselkurse, Stabilitätsgesetz vs. staatl. Austerity, „dritter Weg“ vs. Marktfundamentalismus), ergänzen läßt. Wir meinen, daß dabei gleichzeitig Schulmeisters Lange-Zyklen-Modell auf der theoretischen Ebene korrigiert und präzisiert werden kann und sich so vielleicht sogar das Scheitern der „realkapitalistischen“ keynesianischen Nachfragesteuerung „an sich selbst“ (Schulmeister) in den 70er Jahren noch schlüssiger erklären läßt als bei Schulmeister.

Einen kurzen Überblick über diese Integration findet ihr im Vortrag von Thomas Weiss:

Schulmeisters Phasen des langen Zyklus lassen sich sehr schön in die Plansystematik von Stützels Konjunkturtheorie einsortieren:

Stützels Konjunkturtheorie, historisch illustriert mit Schulmeisters Phasen des „langen Zyklus“.

Stützel schreibt darüber in seinem 1953 verfaßten Buch „Paradoxa der Geld- und Konkurrenzwirtschaft“ (S. 188):

„Reine Gleichgewichtstheorie kann für die gegebenen Fälle der Plandivergenzen (geplante Gesamteinnahmen/Gesamtangebot an Gütern/Diensleistungen > oder < geplante Gesamtausgaben/Gesamtnachfrage nach G/DL) überhaupt keine Lösung angeben. Keynesianische Beschäftigungstheorie kennt nur die 2 Fälle der beiden oberen Quadranten (Käufermärkte)“.

Kein Wunder also, daß die keynesianische Theorie in den 70er Jahren, als staatliche Nachfrageprogramme nicht mehr wirkten, an den beiden unteren Fällen (Verkäufermärkte) dann scheiterte, durch den Monetarismus und „Neoliberalismus“ ersetzt wurde und erst 2008 wieder etwas aus der Versenkung auftauchte. Dagegen war Stützels Ziel, den Streit zwischen Keynesianern und Antikeynesianern so aufzulösen, daß er den Geltungsbereich beider für sich genommen zu absolut und fundamentalistisch formulierten Positionen einschränkte (Keynesianer behalten Recht auf Käufermärkten, Antikeynesianer auf Verkäufermärkten) und so beide scheinbar konträre Positionen bruchlos integrieren konnte. Genau das leistet seine Konjunkturtheorie u.E. auch – und liefert damit einen schlüssigen theoretischen Unterbau für jene antizyklische Konjunkturpolitik, die Keynes mit folgenden Worten empfahl:

“ The important thing for Government is not to do things which individuals are doing already, and to do them a little better or a little worse; but to do those things which at present are not done at all. “ (J.M. Keynes 1926: The End of Laissez-Faire. In: Essays in Persuasion, online)

Weitere Aspekte von Stützels Integration von Konjunkturtheorien aus sehr unterschiedlichen Theorietraditionen präsentiert Johannes Schmidt in diesem Vortrag:

Gleichschritt vs. Abweichungen: Integration verschiedener orthodoxer und heterodoxer Konjunkturtheorien neoklassischer, postkeynesianischer und neukeynesianischer Provenienz in Stützels generellem Schema.

Die klarste Darstellung von Stützels (einzigartiger, bisher auch von Keynesianern nicht entdeckten) Konjunkturtheorie, aus der das obige 4-Quadranten-Modell stammt, findet ihr in Stützels Buch, „VWL – eine Einführung auch für Fachfremde“, 2. Auflage 1988 (verfaßt zusammen mit R.D. Grass), im Kap. 5.9., das hoffentlich bald in neuer, 3. Auflage erscheinen wird.

Die Arbeiterbewegung – ein altmodisch klingendes Wort, aber Lohnarbeit ist auch heute mehr denn je Realität – liegt orientierungs- und machtlos darnieder, Marx und Keynes sind trotz vieler richtiger Beobachtungen an zentralen Herausforderungen gescheitert. Es fehlt eine systematische und historische Theorie, die eine realistische Analyse der gegenwärtigen historischen Situation anleiten, Orientierung bieten und gezieltes Handeln ermöglichen würde. Für eine solche Theorie sind Grundlagenklärungen unverzichtbar. Wie Schulmeister oder Varoufakis versuchen wir, dazu einen substanziellen Beitrag zu leisten.

Unseren Gesamtüberblick über die historisch spezifischen, rechtsinstitutionellen und mikro-/makro-buchhalterischen Fundamente der kapitalischen Geldwirtschaft bzw. westlichen Zivilisation findet ihr hier: