Neuer Kommentar von Wolfgang auf guthabenkrise.de, passend zum 1. Mai, der nicht etwa der „Tag der Arbeit“, sondern der Tag der Internationalen Arbeiterbewegung ist:
Den unteren 95% sind Theorie, Orientierung und Organisation abhanden gekommen, seit 1989 lassen sie sich vom liberalen ideologischen Gegner in die Orientierungs- und angebliche Alternativlosigkeit und Vereinzelung hineinreden. Am ersten Mai 1886 kämpfte die nordamerikanische Arbeiterbewegung für eine Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf 8 Stunden.
Am 1. Mai 2016 kämpft in den USA Bernie Sanders für die Präsidentschaftskandiatur, und vielleicht könnte sich die deutsche Arbeiterbewegung ggf. ja beispielsweise auch mal gegen Schäubles Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 70 Jahre zu Wort melden – und gegen vieles andere mehr.
Allerdings wäre es auch schön, wenn man FÜR etwas sein könnte und ein besseres wirtschaftspolitisches Konzept bieten könnte als der in den Köpfen nach wie vor als „alternativlos“ festgezurrte neoliberale Mainstream, praktisch nie etwas anderes einfällt als Milton Friedman-Neuaufgüsse (ob sie nun „Vollgeld“, „bedingungsloses Grundeinkommen“ oder „QE for the People“ (Friedmans Helikoptergeld) heißen) und die von Friedman eigens zur Schwächung von Gewerkschaften erfundene „natürliche Arbeitslosenrate“ fraglos hinzunehmen. Hier beginnt die Orientierungslosigkeit der Linken – und zwar bereits bei der Analyse der Situation, für die sich das theoretische Instrumentarium (Marx) nicht erst 1989 als unzureichend erwiesen hat.
Es muß offensichtlich erst ein Liberaler kommen, der Marx verstanden hat. Und den gab es: Wolfgang Stützel. Der hat in seiner Saldenmechanik zwar vor allem monetäre Kreislaufparadoxa behandelt, die für Marx Thema des von ihm nie fertiggestellten und posthum von Engels veröffentlichten 2. Bandes des „Kapital“ waren. Er hat aber in seinen „Paradoxa der Geld- und Konkurrenzwirtschaft“ auch einen hervorragenden Abschnitt über „Marx’sche Paradoxa“. Und dort schreibt der Liberale (!) Stützel:
„Die Marxsche Analyse des Konkurrenzparadoxons im Arbeitszeitfall liefert wirtschaftstheoretisch und wirtschaftspolitisch das Schulbeispiel eines Falles, in dem das konkurrierende Zusammenspiel der Wirtschaftenden „schlechte“ Situationen erzeugt, deren Verbesserung grundsätzlich weder durch einfache moralische Besserung der Einzelnen, noch durch entsprechende Übernahme von Verantwortung durch Führer konkret überschaubarer menschlicher Gruppen geleistet werden kann.
Solche fatalen Prozesse können nur durch Globalmaßnahmen über den Gesamtbereich jeweils unmittelbar miteinander konkurrierender Wirtschafter gesteuert werden. Die Arbeitszeitordnung ist die erste moderne Aktion, die grundsätzlich eben nur zentral „wohlfahrtsstaatlich“ vorgenommen werden konnte. (…)
Auch das Problem der größeren Beteiligung der Arbeiter am Volksvermögenszuwachs kann (genau wie das Problem der Verlängerung der Freizeit) nur durch „Globalaktion über den Gesamtbereich unmittelbar miteinander konkurrierender Unternehmer“ gelöst werden.“ (Wolfgang Stützel: Paradoxa der Geld- und Konkurrenzwirtschaft, Aalen 1979, S. 395/S. 395, FN 53)
Ein „Wort zum 1. Mai“ und zur Notwendigkeit von Arbeitsrecht (das ja seit 3 Jahrzehnten per „Deregulierung“ und „Flexibilisierung“ wieder abgebaut werden soll und wird) von einem echten Liberal-Sozialen, dessen „Volkswirtschaftliche Saldenmechanik“ einen Kernbaustein für eine neue politische Ökonomie bereitstellt.
Eine solche neue politische Ökonomie muß – wie Stützel und mit ihm – die Marx’schen Stärken ebenso wie seine Theoriefehler erkennen und aufheben. Dafür ist auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Real-Sozialismus (1917-1989) und seinem Zusammenhang mit der Marx’schen Theorie nötig.
Sie muß außerdem neben klassischen und Marx’schen auch die Keynes’schen Kreislaufparadoxa verständlich machen. Dafür ist Stützels Saldenmechanik unverzichtbares Handwerkszeug: Stützel liefert in seinen „Paradoxa der Geld- und Konkurrenzwirtschaft“ (als LIBERALER!) u.a. auch eine hervorragende Marx-Interpretation, die ihresgleichen sucht. Siehe dazu Wolfgangs Kommentare auf Jörg Buschbecks Saldenmechanik-Blog „Guthabenkrise.de“. Die Kreislaufparadoxa werden jetzt auch von einigen Postkeynesianern – wie der MMT und den Stock-Flow-Consistent Modelers – gesehen. Daher brauchen wir auch den Schulterschluß mit diesen Leuten.
Eine solche Neue Politische Ökonomie für die unteren 95% braucht allerdings auch den expliziten Rückbezug auf die staatlichen und rechtlichen Fundamente des Kapitalismus, die Marx in seiner Kritik der Politischen Ökonomie nicht mehr untergebracht hatte, weil er sich den Zugang dazu – und damit auch zur Kreditwirtschaft, dem Schlüssel zum „Kapitalismus“ – früh durch seine „materialistische Wende“ und sein „Basis-Überbau“-Dogma verbaut hatte. Ein Verständnis der staatlichen und rechtlichen Fundamente läßt sich auf einfache Weise gewinnen, indem man Saldenmechanik über kaufmännische Buchhaltung explizit aufs Recht rückbezieht (s.u.), auf dem es empirisch beruht. Denn worüber „Buch geführt“ wird, sind Vermögensrechte:
„Das Vermögen ist eine Summe, eine Zusammenfassung von Rechten und Rechtsverhältnissen, und zwar im Hinblick auf eine bestimmte Person, der sie zustehen. Auch hier begegnet uns wieder die Gleichsetzung der Sache mit dem Eigentum an der Sache; so, wenn in einer Vermögensaufstellung nacheinander angeführt werden: Grundstücke, bewegliche Sachen, Forderungen und andere Vermögensrechte. Rechtlich gesehen sind Sachen, als Rechtsgegenstände erster Ordnung, nicht mit Rechten als Rechtsgegenstände zweiter Ordnung auf den gleichen Nenner zu bringen. Es müßte daher heißen: Eigentumsrechte an Grundstücken, Eigentumsrechte an beweglichen Sachen, Forderungen und sonstige Rechte. Mit Recht sagt v. Tuhr: „Keine unmittelbaren Bestandteile des Vermögens sind die Objekte der zum Vermögen gehörenden Rechte; das Vermögen besteht aus dem Eigentum an den Sachen, die dem Berechtigten gehören, nicht aus den Sachen selbst, aus den Forderungen, nicht aus den Leistungsgegenständen, die vermöge der Forderung verlangt werden können.“ (Karl Larenz: Lehrbuch des Schuldrechts, München 1987, S. 306)
Mithilfe dieser einfachen empirischen Verbindung von Saldenmechanik und Recht/Staat über die Buchhaltung bekommen wir ganz nebenbei u.a. auch eines der oft übersehenen Kernprobleme der Globalisierung sehr klar auf den Schirm: das Problem der Macht transnationaler Großkonzerne über kleinere Staaten.
Außerdem brauchen wird den systematischen Vergleich von Rechtsbeziehungen mit direkt persönlichen Beziehungen, wie sie in Gemeinschaften ohne Staat gelebt werden (auch das hatte für Marx eine zentrale Rolle gespielt). Dafür brauchen wir auch Rechtswissenschaft, Rechtsvergleichung und Rechtsanthropologie – die Marx in seinem Modell nie mehr unterbringen konnte, weil er diese primären Elemente des Kapitalismus als junger Student zu bloßen Anhängseln der „materiellen Produktion“ erklärt hatte, was die Wirklichkeit auf den Kopf stellt.
Mehr dazu im folgenden Video (Details im Text dazu – klick to download).
Die Diskussion um die rechtlichen und staatlichen Fundamente der Geldwirtschaft wird übrigens mittlerweile auch beim Modern Money Network geführt.
> Die Kreislaufparadoxa werden jetzt auch von einigen Postkeynesianern – wie der MMT und den Stock-Flow-Consistent Modelers – gesehen. Daher brauchen wir auch den Schulterschluß mit diesen Leuten.
Wichtiger Punkt. Vor allen Dingen würde ein solcher Prozess gefördert, wenn ein solcher Schulterschluss mit SFC-Modelers (https://en.wikipedia.org/wiki/Stock-Flow_consistent_model) anhand eines „englischen Stützels“ gefördert würden.
Hallo Rob –
ja, das wäre sehr wichtig. Es gibt leider noch nicht viel zu Stützel in englisch, aber Johannes Schmidt, Fabian Lindner, Severin Reissl und auch wir arbeiten daran. Siehe z.B.
Johannes Schmidt (2016): Reforming the Undergraduate Macroeconomics Curriculum: The Case for a Thorough Treatment of Accounting Relationships, http://www.hs-karlsruhe.de/fileadmin/hska/W/allgemein/KDB_160411_Schmidt.pdf
Fabian Lindner/Severin Reissl (2015): Balance Mechanics and Macroeconomic Paradoxes (Präsentation, 14 S.) http://www.boeckler.de/pdf/v_2015_10_23_reissl.pdf
Fabian Lindner (2012): Saving does not Finance Investment. IMK Working Paper, 2012, http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_wp_100_2012.pdf
Charlotte Bruun (1995): Logical Structures and Algorithmic Behavior in a Credit Economy. Dissertation, Aalborg Universität, darin Kap. 2: Logical Structure of a Monetary Economy, http://personer.samf.aau.dk/fileadmin/freesite/users/19/forskning/phd/chap3.pdf
Grüße,
Wolfgang
Super Idee! Nach einem „englischen Stützel“ haben wir bislang jedoch vergeblich gesucht. Irgendwelche neuen Ideen? Letztlich wird es wohl eine Übersetzung von Stützels Arbeiten benötigen.
Wir haben mit Johannes Schmidt und Fabian Lindner (wird ebenfalls bald veröffentlicht) Gespräche geführt. Beide haben schon auf Stützels Ideen basierende englische Veröffentlichungen gemacht. Dieser Weg – per Übersetzungen – ist sicher langwieriger, als wenn es schon einen „englischen Stützel“ gäbe, nur scheint es derzeit der einzig gangbare zu sein.