Legal Institutionalism: die Dialektik des Rechts

Vorbemerkung

Am besten wäre, Sie nehmen sie sich Zeit, diesen Text in Ruhe – und gegebenenfalls auch mehrmals – zu lesen. Der Text kann unter Umständen schon dadurch herausfordernd sein, weil Begriffe unterschiedlicher Fachbereiche Verwendung finden, deren Bedeutung nicht immer der Alltagsverwendung dieser Begriffe entspricht, so sie überhaupt im Alltag Verwendung finden.  Weil der Text zudem lang ist, beginnen wir mit einer inhaltlichen Zusammenfassung.

Zusammenfassung

Die EU und die Eurozone sind in einer tiefen Krise. Die orthodoxe und heterodoxe Ökonomie ebenfalls. Während in der orthodoxen, neoklassischen Ökonomie Geld keine Rolle spielt und deshalb auch Finanzkrisen nicht schlüssig erklärt werden können, haben die (heterodoxen) Postkeynesianer in dieser Hinsicht mehr zu bieten. Aber der heterodoxen Ökonomie insgesamt fehlt ein gemeinsames Paradigma. Es fehlt ihr auch ein systematisches, präzises rechtliches Fundament, ohne das die verschiedenen Ebenen der institutionellen Fehlkonstruktionen der Eurozone und der EU nicht erkannt und deshalb auch nicht behoben werden können.

Wir müssen systematisch zusammenhängende, rechtlich-institutionelle und saldenmechanische Grundlagen für die postkeynesianische Makroökonomie schaffen. Eine systematische begriffliche Integration von BWL, VWL und Politikwissenschaften kann über Recht, doppelte Buchhaltung und gesamtwirtschaftliche Saldenmechanik erreicht werden. Wenn wir nicht nur das neoklassische Paradigma ernsthaft herausfordern, sondern auch die europäische Krise auf allumfassende Art und Weise begreifen und behandeln wollen benötigen wir diese begriffliche Integration. Die Verknüpfung von Legal Institutionalism und der Legal Theory of Finance mit postkeynesianischer Makroökonomie kann mithilfe einfacher, aber präziser Konzepte der doppelten Buchhaltung und der gesamtwirtschaftlichen Saldenmechanik erreicht werden.  Am 04.04.2016 haben wir unsere Ideen hierzu auf dem WINIR Symposium 2016 über Eigentumsrechte, ausgerichtet vom World Interdisciplinary Network on Institutional Research (WINIR, Globales Interdisziplinäres Netzwerk für Institutionelle Forschung), vorgestellt. Unsere Präsentationen können hier (auf Englisch) angesehen werden:

Systematische rechtliche Grundlagen der Geldtheorie – ein wichtiger Schritt in Richtung eines neuen Paradigmas für politische Ökonomie

Warum Vermögen keine Sachen sind, warum Kaufen nicht Bezahlen ist und warum ein neues makroökonomisches Paradigma beide mikroökonomischen Einsichten berücksichtigen muss

Im Folgenden werden wir die Inhalte unserer Arbeitspapiere auf Deutsch umreißen.

Eigentum, Freiheit und der Staat

Das Eigentums- und Vertragsrecht bilden den Kern des Privatrechts. Sie garantieren persönliche Freiheit, institutionalisieren die essentiellen Menschenrechte der europäischen Zivilisation und dezentralisieren die Machtverhältnisse grundlegend. Eigentum und (Vertrags-)Freiheit sind die grundlegendsten Vorstellungen der europäischen Zivilisation, sowohl der altertümlichen (griechisch-römisch), als auch der modernen (europäisch-westlich).

Die erste Welle des modernen Liberalismus, der Eigentum und Freiheit erfocht, kam nicht von Ökonomen. Sie kam von liberalen Rechtsphilosophen, wie John Locke in England, Immanuel Kant in Deutschland und Jean-Jacques Rousseau in Frankreich. Das Eigentums- und Vertragsrecht stützen sich auf die liberalen Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Konsens.

Dennoch können freie Bürger das Privatrecht nur innerhalb eines öffentlichen Rechts institutionalisieren, welches einen zentralisierten souveränen Staat erfordert, welcher körperliche Gewalt monopolisiert, um sowohl private als auch öffentliche Rechte und Pflichten durchsetzbar und gerade damit verlässlich zu machen. Das öffentliche Recht basiert jedoch nicht auf Freiheit und Gleichheit sondern auf Über-/Unterordnung und Befehl. Diese Prinzipien stehen im direkten Gegensatz zu den Prinzipien des Privatrechts (Freiheit/Gleichheit, Konsens, Markt). Mitten im Herzen des Rechtssystems der europäischen Zivilisation (bzw. des Kapitalismus), befindet sich demnach ein unausweichlicher Widerspruch zweier Grundprinzipien:
– Befehl/Herrschaft (Öffentliches Recht, Politik) und
– Vertrag/Freiheit (Privatrecht, Wirtschaft).

Der Jurist Johann Braun bemerkt in seiner Einführung in die Rechtswissenschaft dazu lapidar:

„In dieser schroffen Gegenüberstellung erscheint das zweifellos als Widerspruch. in einer menschengerechten Ordnung muß es jedoch sowohl Bereiche geben, die dem freien Spiel der Kräfte überlassen sind, als auch andere, in denen der Wettbewerb ausgeschaltet ist. Eine solche Ordnung aber kann nur aus dem Zusammenspiel widerstreitender Ordnungsmuster entstehen.“ (Johann Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 238).

Das wichtigste „wettbewerbswidrige“ Monopol des Staates auf seinem Territorium ist daher das staatliche Gewaltmonopol, das den einzelnen Bürgern Waffen und die Befugnis zur Selbstjustiz aus den Händen nimmt und in die Hände des Staats legt. Dieses Monopol ist dann Kern einer zivilisatorischen Ordnung, wenn der Staat selbst sich ans Recht bindet (verfassungsmäßiges Prinzip des Rechtsstaats, s.u.).  Die Dezentralisierung und Privatisierung des staatlichen Gewaltmonopols („private Sicherheitsdienste“) führt nicht zu einem effizienten Markt, sondern löst die Durchsetzbarkeit gleichen Rechts für alle auf, was einer Auflösung der Zivilisation gleichkommt, da die Gleichheit vor dem Recht eine notwendige Bedingung der Zivilisation ist.

In der Wirtschaftswissenschaft hat dieser Prinzipienwiderspruch den Ausschlag für verschiedene Formen von Fundamentalismus gegeben. Radikale Liberale (wie z.B. Milton Friedmans Sohn David) stellten sich auf die Seite des Marktes (basierend auf dem Privatrecht, bzw. dessen Prinzipien) und gegen den Staat, den sie komplett abschaffen wollten. Radikale Sozialisten hingegen wollten das Privateigentum vollständig beseitigen (die Hauptgrundlage des Privatrechts und des Marktes) und alle produktiven Aktivitäten von einem zentralisierten Staat planen und koordinieren lassen.

Heute, 27 Jahre nach dem Zusammenbruch des staatlichen Sozialismus, haben die Marktfundamentalisten derzeit die Nase klar vorn. Unterschiedlichste staatliche Funktionen werden privatisiert, einige Regierungen ersetzen bereits polizeiliche Einsatzkräfte durch verschiedene private Sicherheitsdienste, um damit Geld zu sparen, ebenso setzen staatliche Institutionen wie Krankenhäuser und Universitäten private Sicherheitsdienste ein. Der Ansatz, auch staatstragende Funktionen zu privatisieren, gefährdet das Recht an sich.

Um solchen Fundamentalismen entgegenzuwirken, müssen Ökonomen (die typischerweise das Recht weitgehend ignorieren oder es zumindest in seiner Bedeutung nicht erfassen) den widersprüchlichen Charakter des Rechtssystems (Öffentliches Recht vs. Privatrecht) verstehen lernen und sich vergegenwärtigen wie dieser Widerspruch im Recht selbst, nämlich durch das Verfassungsrecht, gehandhabt wird. Wir hatten schon genug ökonomische Fundamentalismen, sei es Staats- oder Markt-Fundamentalismus. Ein tieferes Verständis der rechtlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeit der Gegenwart kann auf Fundamentalismen der einen oder anderen Art verzichten, ja, muss darauf verzichten.

Das Paradoxon der sichtlich widersprüchlichen Prinzipien des dezentralisierten Privatrechts (Freiheit/Gleichheit, Konsens, Markt) und des zentralisierten öffentlichen Rechts (Unterwerfung, Befehlsgewalt, Staat) wurde, nach einer absolutistischen Phase der Staatenbildung (Bodin, Hobbes, Machiavelli), geschichtlich gesehen durch die Konzepte der Volkssouveränität (Rousseau), der Gewaltenteilung (Montesquieu) und Demokratie (ausgehend von der altertümlichen Polis) als Grundvorstellungen des westlichen Verfassungsrechts herbeigeführt.

Demokratische Verfassungen und „Rule of Law“

Die Hauptidee hinter diesen Kerninstitutionen der westlichen Zivilisation ist es, auch das öffentliche Recht den freien Bürgern zu unterwerfen, indem die freien Bürger – Subjekte des Privatrechts – in partielle kleine Souveräne verwandelt werden („Volkssouveränität“), die sich mithilfe des durch sie legitimierten staatlichen Gewaltmonopols selbst regieren. Als Subjekte des Privatrechts (als „bourgeois“), erschaffen Bürger gesetzlich verbindliche, vollstreckbare Rechte und Pflichten durch Verträge. Als Subjekte des Öffentlichen (!) Rechts (als „citoyen“), erschaffen sie gesetzlich verbindliche, vollstreckbare Rechte und Pflichten durch die öffentliche Legislative. Dies geschieht entweder direkt oder – in repräsentativen Demokratien – durch ein gewähltes Parlament. In beiden Fällen sind es letztlich die freien Bürger, die das Recht setzen und kein absoluter Monarch. Die Vorstellung ist, dass die Bürger sich dem Recht unterwerfen, das sie selbst erschaffen haben, d.h. sie werdem vom „Rule of Law“ regiert, und nicht von einem absoluten Monarchen, der per „Gottesgnadentum“ regiert.

Aber das „Rule of Law“ beinhaltet wichtigere Prinzipien, die – während sie sich auf das staatliche Gewaltmonopol stützen – direkt auf die Schwächung und Kontrolle eben dieses Monopols gerichtet sind. Die freien Bürger nutzten die alte Strategie des „divide et impera“ gegen ihr staatliches Gewaltmonopol. In der Geschichte haben sie drei Hauptmethoden entwickelt um die monopolistische Staatsgewalt zu unterteilen oder zu trennen: die erste, wahrscheinlich am wenigsten anerkannte aber wichtigste Unterteilung, ist die Trennung des Bereichs des öffentlichen Rechts, der sich auf Befehlsgewalt und Unterwerfung der Subjekte unter einen Souverän stützt, vom Bereich des Privatrechts, der sich auf Gleichheit und Konsens der freien Bürger stützt. Die zweite Unterteilung ist die vertikale Gewaltenteilung – der Föderalismus. Die Macht der zentralisierten Regierung ist auf eine Anzahl vertikaler Ebenen unterteilt, typischerweise die föderale Ebene (Bundesebene), die staatliche Ebene (Landesebene) und die Ebene der Gemeinden (Kommunale Ebene), von der jede eine eigene gewählte Regierung bildet. Die dritte und wohl bekannteste Unterteilung, ist die horizontale Gewaltenteilung innerhalb jeder einzelnen föderalen Ebene, zwischen der legislativen, exekutiven und judikativen Regierungsgewalt.

Jede dieser Maßnahmen teilt die monopolisierte Gewalt eines zentralisierten (föderalen) Staates und schwächt sie somit – während ein Gewaltmonopol aber in Bezug auf bestimte Kernbereiche dennoch weiterexistiert. Nur ein zentrales Gewaltmonopol kann das Privatrecht auf dieselbe Art und Weise für alle Bürger garantieren und durchsetzen. Nur ein prinzipiell vorhandenes zentrales Gewaltmonopol kann geteilt werden, ohne den inneren Zusammenhalt, den ein vereinter föderaler Staat im Interesse der Öffentlichkeit bieten muss, zu verlieren.

Hier tritt also eine andere Dialektik zutage, nämlich diejenige zwischen einer vereinten Macht und einer getrennten Macht. Beide Prinzipien widersprechen einander, aber durch diesen Widerspruch kreieren sie eine Dynamik, die verschwände, sobald einer dieser Pole dieses Widerspruchs eliminiert würde.

Edmund Burke hat die Schwierigkeit, die mit der erfolgreichen Bildung einer solch widersprüchlichen Struktur einhergeht, mit folgenden Worten trefflich beschrieben:

“Um eine Regierung zu bilden, bedarf es keiner großen Klugheit. Bestimme ein Machtzentrum, bringe Gehorsam bei, und die Tat ist vollbracht. Freiheit zu geben ist noch einfacher. Es ist nicht nötig, zu lenken; es ist nur nötig, die Zügel loszulassen. Aber eine freie Regierung zu bilden, das heißt, diese gegensätzlichen Elemente der Freiheit und der Maßregelung auf stimmige Art und Weise zusammenzufügen, bedarf vieler Gedanken, tiefgreifender Überlegungen und eines scharfsinnigen, mächtigen und kombinierenden Verstandes.” (Edmund Burke, „Betrachtungen über die Französische Revolution“, 1790, unsere Hervorh.)

Vor diese Probleme der Staatsbildung sind sämtliche sog. „Entwicklungsländer“, die versuchen dem westlichen Modell nach zu eifern, genauso gestellt wie auch Europa als Ganzes. Auf dem europäischen Kontinent gibt es zwar ein seit dem 2. Weltkrieg verfolgtes europäisches Einigungsprojekt von Staaten, die, mit einigen Ausnahmen, einzeln als funktionierende Staaten bezeichnet werden können, die EU selbst jedoch ist bisher kein Staat, sondern lediglich ein enger Staatenbund (Staatenverbund), der die Macht souveräner Entscheidungen in existenziellen Fragen bei den Mitgliedsstaaten beläßt.

Wie sind die verschiedenen entstehenden und heute bestehenden Staaten mit diesem Problem der Staatsbildung umgegangen? Wie haben diese Staaten sich entwickelt? Warum (und wie) haben einige von ihnen eine „liberale Demokratie“ ausgebildet, während andere in Diktaturen oder korrupten Zwischenlösungen endeten?

Francis Fukuyama stellt diese Fragen in seinen Büchern „Origins of Political Order“ (2011) und „Political Order and Political Decay“ (2014), und präsentiert eine historisch vergleichende Abhandlung über Staatsbildung, beginnend im antiken China. Merkwürdigerweise lässt er die antike griechische Polis und die römische Civitas, die Ursprünge der westlichen Zivilisation und damit ihre grundlegenden Ideen über Eigentum, Freiheit, Demokratie und Rule of Law, völlig aus. Ebenso lässt er eine Analyse der europäischen Versuche zur Unionsbildung aus, was schade ist, da Fukuyamas vergleichende Herangehensweise Klarheit in den Zustand des europäischen Einigungsprojektes bringen könnte. Durch den vergleichenden Ansatz könnte eine realistischere Perspektive enstehen, die die derzeitige öffentliche Debatte um die EU als oberflächlich entlarven würde.

Fukuyama scheut sich allerdings nicht davor, seine Erkenntnisse offen darzulegen: (1) „Krieg erschuf den Staat, und der Staat erschuf Krieg“, ist das ernüchternde Resultat, das eine vergleichende geschichtliche Untersuchung in den meisten Fällen zeitigt. Seine vergleichende Geschichte der Staatsbildung zeigt außerdem, dass (2) in den meisten Fällen ein starkes staatliches Gewaltmonopol nur dann geteilt und demokratisiert werden konnte, wenn es zuvor als ein (absolutistisches) Monopol gebildet worden war. Letztlich stellt Fukuyama dar (3), dass das Staatsprinzip (zentralisierter Zwang) mit dem Prinzip der Verwandtschaft und Familienbeziehungen konkurriert. Einerseits untergräbt es familienbezogene Gegenseitigkeit und Solidarität, andererseits ist der Staat der immerwährenden Gefahr ausgesetzt, repatrimonialisiert, d.h. durch klientelistische Netzwerke der Begünstigung und Verwandtschaft korrumpiert zu werden.

Fukuyama zeigt dies vergleichend und detailliert anhand der Geschichte verschiedener Staaten, einschließlich des antiken Chinas, des modernen Preußens und der Vereinigten Staaten von Amerika. Interessanterweise stellt Fukuyama fest, dass die USA in ihrer Frühphase beim Aufbau unpersönlich-verläßlicher, unkorrupter Staats- und Rechtsinstitutionen nicht sonderlich erfolgreich waren. Fukuyama zufolge führte die schnelle Bildung einer demokratischen Föderation zu einem klientelistischen politischen System, das später nur schwer zu überwinden war. Erst während der Progressive Era konnten die USA dies laut Fukuyama bis zu einem gewissen Punkt nachholen und der politische Progressivismus in den USA des späten 19. und Beginnenden 20. Jahrhunderts hat sicher viel für die Erschaffung eines verlässlicheren staatlichen und politischen Systems getan. Allerdings sind Fukuyamas Ansicht nach Patriamonialismus und Klientelismus in den USA in großem Stil zurückgekehrt, und zwar in Form des Wall-Street-Lobbyismus.

Kann die Art, wie die amerikanische Föderation in den Jahren vor der Verfassung von 1787 gebildet wurde, ein Modell sein, von dem Europäer für ihr Einigungsprojekt lernen können? Jedenfalls sind die USA eines der wenigen Beispiele in der Geschichte, wo ein föderaler Bundesstaat auf demokratische Weise gebildet wurde, etwas, wonach auch die Europäer streben. Die meisten erfolgreichen Versuche der Bundesstaatsbildung waren in der Geschichte despotisch – Asien und auch Preußen befinden sich unter Fukuyamas eindrücklichsten Beispielen. Europäer werden auf die vergleichende Geschichte der Staatsbildung schauen müssen, wenn sie eine vernünftige Lösung heraus aus der Sackgasse, in die sich die EU und die Eurozone hineinmanövriert haben, finden wollen. Ohne vergleichende Staatsbildungsgeschichte wird es wohl schwer die Oberflächlichkeit zu überwinden, über welche die öffentliche Debatte um die EU und ihre weitere Entwicklung bisher nicht hinaus gekommen ist.

Wir sehen ein grundlegendes Problem in der Tatsache, dass seit 1992 die EU auf einem falschen Pfad ist. Die zentrifugalen Kräfte in der Union sind Ergebnis der schwelenden Deflation, welche wiederum eine Folge der vorangegangenen und weiter zunehmenden Vermögensverteilung von unten nach oben ist, die ihrerseits wiederum Ergebnis wirtschafts- und steuerpolitischer Entscheidungen ist. Falsche Wirtschaftstheorien dienen dabei der scheinbaren Legitimation dieser Politik. In krassem Gegensatz zu den ursprünglichen Zielen der Europäer für ihren Zusammenschluss, wird diese Politik von politischen Entscheidungsträgern und der Mehrheit der Europäer für „alternativlos“ erachtet. Zu dieser „Alternativlosigkeit“ scheint im Augenblick die einzig wahrgenommene Alternative die komplette Auflösung der Union zu sein, ohne jedoch einen vernünftigen Plan zu haben wie man sich nach so einer befreienden Maßnahme sinnvoll weiterbewegen soll (was nicht zuletzt auch die jüngsten Ereignisse nach dem Brexit in Großbritannien nahelegen).

Das andere Problem sehen wir in der Tatsache, dass die Union viel zu schnell gewachsen ist, auf (noch) 28 Mitgliedsstaaten. Der Währungsunion wurde dabei der Vorrang vor der Bildung eines gemeinsamen (föderalen) Staates mit gemeinsamem Recht gegeben. Ohne „Rechtsunion“, d.h. gemeinsames Öffentliches Recht und gemeinsames Privatrecht, können jedoch quantitativ gleiche Rechte (z.B. zwei Forderungen gleicher Laufzeit und gleichen Nennbetrags) in unterschiedlichen Jurisdiktionen unterschiedlich in ihrer Wirkung, d.h. in ihrer Qualität, sein. Gemeinsames gelebtes und nicht bloß gemeinsames geschriebenes Recht würde (gemeinsame) Verwaltungsstrukturen erfordern, die sich auf einem ähnlichen Niveau der Zuverlässigkeit und Unbestechlichkeit befinden.

Es gibt also sowohl Probleme in der Wirtschaftspolitik als auch in der Strategie des europäischen Einigungsprojektes. Beide Herausforderungen müssen gemeinsam angegangen werden. Das kann aus unserer Sicht nur durch eine systematische Zusammenarbeit von monetären Makroökonomen, Juristen, Politikwissenschaftler (wie z.B. Fukuyama) und Historikern erreicht werden. Die Grundlage einer solchen Zusammenarbeit ist ein möglichst genaues Verständnis der Beziehungen zwischen Familie, Staat, Recht, und des Finanzsystems: Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft und ihre paradoxen Beziehungen.

Unser Ziel ist es, Menschen dieser Disziplinen zusammenzubringen, um an einem besseren, realistischeren Plan für eine Vorwärtsbewegung der europäischen Integration, basierend auf einem gemeinsamen Paradigma, das sich auf das Recht stützt, genauer auf die Verbindung von Recht, Rechnungslegung, Finanzierung und Markoökonomie (hier sind Stützels Saldenmechanik und postkeynesianische monetäre Makroökonomie wichtige Elemente). Ein zusätzliches verbindendes Element ist die vergleichende Geschichte. Eine integrative Perspektive auf die europäische Zivilisation wird hier benötigt und die systematische Verbindung von Recht, Rechnungslegung und Makroökonomie kann diese ermöglichen. Wir müssen die Isolation der einzelnen Disziplinen überwinden, wenn die riesigen Herausforderungen, denen Europa gegenübersteht, angegangen werden sollen.

Lassen Sie uns diese Verbindung von Recht, doppelter (betriebswirtschaftlicher) und vierfacher (volkswirtschaftlicher) Buchhaltung und monetärer Makroökonomie etwas genauer ansehen.

Wirtschaft, Politik und Politische Ökonomie made in Law

Wirtschaft und Finanzierung stützen sich auf die dialektische Beziehung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht. Jeder Bilanzeintrag ist ein Recht, vollstreckbar durch einen souveränen Staat: jedes „Sach-“ oder „Realvermögen“ repräsentiert ein Eigentumsrecht (Rechtsobjekt 2. Ordnung) in Bezug auf eine Sache (Rechtsobjekt 1. Ordnung), jedes „Finanzvermögen“ ist entweder ein vertraglicher Anspruch (Privatrecht) oder ein gesetzlicher Anspruch (Öffentliches Recht, z.B.: Steuerrecht). Das gilt für die den Ansprüchen entsprechenden Verpflichtungen genauso: Ansprüche (Forderungen) werden auf der Aktivseite von Bilanzen verbucht, Verpflichtungen (Verbindlichkeiten) auf der Passivseite (Anmerkung für Nicht-Buchhalter: „aktiv“ und „passiv“ stehen dabei für wenig anderes als „links“ und „rechts“; man könnte die „Aktivseite“ also schadlos die „linke Seite der Bilanz“ und die „Passivseite“ die „rechte Seite der Bilanz nennen). Nur die Vollstreckbarkeit durch eine staatliche Institution verwandelt Bilanzeinträge auf der Aktivseite in potenziell fungible Vermögenswerte. Ein Beispiel: ohne erwartbare Vollstreckbarkeit können Forderungen nicht abgetreten werden, weil nicht einklagbare Forderungen gegen einen weitgehend unbekannten Dritten kaum akzeptiert würden.

Aus rechtlicher Perspektive werden in der Rechnungslegung Bücher nicht über die Werte von Vermögensgegenständen und Schulden geführt, sondern über vollstreckbare Vermögensrechte und Pflichten: Materielle (Sachvermögen) und immaterielle Vermögensgegenstände (z.B. Markenrechte, Patente oder Firmenwerte) sind Eigentumsrechte, Forderungen sind Ansprüche gegenüber anderen Rechtspersonen, und Schulden sind Pflichten gegenüber anderen Rechtspersonen. Die Bezeichnung „Sachvermögen“ beinhaltet eine Verwechslung von Eigentumsrechten und Besitzrechten: Was gemeinhin als „Sachvermögen“ bezeichnet wird, ist tatsächlich ein Eigentumsrecht, das ein Ausschlußrecht eines Einzelnen gegenüber allen anderen ist, einschließlich des Staats. Dieses Recht, kann eine Rechtsperson innehaben, ohne unmittelbare körperliche Kontrolle über die materielle Sache zu haben.

Nehmen wir zum Beispiel den Fall eines vermieteten Hauses: Es ist kein Sachvermögen für den Mieter, sondern für den Eigentümer. Aber der Mieter besitzt das Haus, d.h. hat die tatsächliche physische Kontrolle über das Haus, sitzt mithin im Haus. Der Eigentümer verfügt also über das Sachvermögen (Eigentumsrecht), aber nicht über das Haus an sich (Besitz), weil er das Besitz- und Nutzungsrecht auf den Mieter per Mietvertrag übertragen hat. Das Eigentumsrecht aber bleibt beim Vermieter und somit auch das Sachvermögen: nur der Vermieter (d.h. der Eigentümer) kann das Haus als Vermögensgegenstand auf der Aktivseite seiner Bilanz führen und rechtmäßig verkaufen oder als Kreditsicherheit einsetzen. Dem Mieter (d.h. dem Besitzer) stehen diese Möglichkeiten nicht offen.

Kein Staat, kein Gesetz; kein Gesetz, kein Markt; kein Markt, keine Innovation (“Modernisierung”)

Die Möglichkeit Eigentumsrechte auf andere Bürger auch unabhängig vom unmittelbaren Besitz des Objektes zu übertragen fehlt bei vor-staatlichen oder schwach-staatlichen Gesellschaften, die noch kein verlässliches Privatrecht institutionalisiert haben. Ohne ein verlässliches staatliches Gewaltmonopol und eine verlässliche staatliche Verwaltung, die per Öffentlichem Recht erfolgt, kann ein verlässliches Privatrecht aber gar nicht erst entstehen. Wie der Rechtsanthropologe und Historiker William Seagle es ausdrückt:

“Das Konzept des „Besitzes“ im Gegensatz zum Eigentum eignet sich viel mehr, um primitive Institutionen zu beschreiben … bis die Erschaffung von Rechtsansprüchen alltäglich wird, ist kein Eigentumsrecht nötig. (…) Mehr Beachtung geschenkt werden sollte der Tatsache, dass ein nichtbesitzender Eigentümer in den meisten primitiven Gesellschaften unbekannt ist. Der Eigentümer ist auch der Besitzer. Besitz ist das gesamte Gesetz.”  (William Seagle, „The Quest For Law“ („Weltgeschichte des Rechts“), 1941, 51-52; 55).

Effiziente Märkte entstehen nicht durch Magie von selbst, auch nicht durch laissez-faire „Selbstorganisation“, wenn sämtliche Einschränkungen durch Regierungen nur endlich aufgehoben worden sind. Ganz im Gegenteil: ohne einen (starken) Staat, der gewillt und imstande dazu ist, seinen Bürgern Eigentums- und Vertragsrechte auf verlässliche Art und Weise einzuräumen (und diese im Zweifelsfalle auch durchzusetzen), werden keine effizienten Märkte, sondern schlichtweg Chaos entstehen, wie Russland, das in den 1990ern westlicher neoliberaler Ideologie zum Opfer gefallen war, auf schmerzhafte Art und Weise erfahren musste.

Francis Fukuyama schreibt über solche „Staatenlosigkeitsfantasien“, an die nicht nur von Anarcholiberalen wie Milton Friedmans Sohn David Friedman geglaubt wurde, sondern auch von marxistischen Romantikern:

“… die Vorstellungen einer minimalistischen Gesellschaft ohne Regierung, die sowohl von rechten als auch linken Träumern ersonnen wurden, sind keine bloßen Fantasien: sie existieren tatsächlich in den modernen Entwicklungsländern. Große Teile Afrikas südlich der Sahara sind ein Paradies für Libertäre… Politische Institutionen sind notwendig und können nicht als gegeben angenommen werden. Eine Marktwirtschaft und großer Wohlstand entstehen nicht auf magische Art und Weise, wenn „die Regierung beseitigt wird“; sie stützen sich beide auf eine versteckte institutionelle Grundlage aus Eigentumsrechten, Rule of Law und einer politischen Grundordnung. Ein freier Markt, eine lebhafte Zivilgesellschaft und kollektive Intelligenz sind alles wichtige Komponenten einer funktionierenden Demokratie, aber letztlich kann keine davon die Funktionen einer starken, hierarchischen Regierung ersetzen.“ (Francis Fukuyama, “Origins of Political Order”, 2011, 13-14)

In zwei großen Bänden, die eine breite, geschichtlich vergleichende Analyse der Staatenbildung beinhalten, erforscht Fukuyama die Frage wie Staaten historisch überhaupt entstanden sind und schlussfolgert:

Einige der erfolgreichsten heutigen Staaten entstanden unter autoritären Bedingungen, oft in Ländern, die starke nationale Sicherheitsbedrohungen erlebten. Dies ist der Fall im antiken China, Preußen/Deutschland, dem heutigen Japan und einer Handvoll anderer Länder. Im Gegensatz dazu steht der Fall, dass wenn eine Demokratie vor der Festigung eines modernen Staatswesens eingeführt wird, dies oft den Effekt hat, dass die Regierungsqualität geschwächt wird. Das Hauptbeispiel dafür sind die Vereinigten Staaten, die mit dem Start in die Demokratie in den 1820ern den klientelistischen Parteienstaat erfanden und danach von einer Vetternwirtschafts-Bürokratie bis weit in das nächste Jahrhundert hinein unterjocht waren. Das entspricht der Geschichte Griechenlands und Italiens, die beide ausgeklügelte klientelistische Systeme entwickelten, die das Wachstum einer modernen staatlichen Verwaltung behinderten. Der Klientelismus bleibt allgegenwärtig in den demokratischen Ländern der sich entwickelnden Welt und untergräbt die Regierungsqualität von Indien und Mexiko bis Kenya und den Philippinen.“ (Francis Fukuyama, “Political Order and Political Decay” („Politische Ordnung und Politischer Verfall“), 2014, 508)

Heterodoxe Geldtheorie: Fehlen von systematischen Rechts- und Institutionsgrundlagen

Heterodoxe postkeynesianische Geldtheoretiker haben bisher diese Rechtsvoraussetzungen entweder einfach als gegeben hingenommen oder haben nur teilweise und unsystematisch entweder den Privatrechts-Aspekt (Heinsohn/Steigers Ownership Economics) oder den Aspekt des Öffentlichen Rechts (Chartalists, Wrays Modern Monetary Theory) betrachtet. Dieses komplette Fehlen von Rechts- und Institutionengrundlagen könnte sehr wohl einer der wichtigsten Gründe für die anhaltende paradigmatische Selbstausgrenzung im Angesicht der hegemonialen neoklassischen Ökonomie sein, welche empirisch nichts über Geld, Kredit und finanzielle Krisen zu sagen hat, wie diesem Zitat von Frank Hahn zu entnehmen ist:

„Die größte Herausforderung, die die bloße Existenz des Geldes für den Theoretiker darstellt, ist diese: das am besten entwickelte (neoklassische, d.A.) Wirtschaftsmodell kann keinen Raum dafür finden.“ (Frank Hahn, “Money and Inflation”, 1981, 1)

Friedrich August von Hayek fügt hinzu:

“Es ist ein Widerspruch in sich selbst, einen Prozess zu diskutieren, der ohne Geld zugegebenermaßen nicht vonstatten gehen könnte, und zur gleichen Zeit anzunehmen, dass Geld nicht vorhanden sei oder keine Wirkung hätte.“ (Friedrich A. von Hayek, “Pure Theory of Capital“, 1941, 31)

Klare Beschreibungen der rechtlichen Grundlagen der Wirtschaft sind in der Geschichte der politischen Ökonomie und Volkswirtschaftslehre schwer zu finden, wurden aber z.B. von Henry Dunning MacLeod im 19. Jahrhundert sowie Rudolf Kaulla, John R. Commons und der sozialrechtlichen Schule der deutschen Ökonomie (Fritz Berolzheimer, Karl Diehl, Rudolf Stammler u.a.) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht. Diese einfachen Einsichten werden nun von der “Legal Theory of Finance” und dem “Legal Institutionalism” wiederentdeckt, die nun damit beginnen, dies mit Geldtheoretikern und mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen zu diskutieren. Zwei japanische Autoren nehmen nun die Ursprünge der doppelten Buchführung im Römischen Recht eindeutig wahr, konzentrieren sich dabei jedoch ausschließlich auf das Privatrecht.

Im Gegensatz zur markt- oder staatsfundamentalistischen Ideologie der Ära des Kalten Krieges ist das zutage tretende System ein Hybrid und basiert auf sich diametral widersprechenden Prinzipien (privater Konsens/öffentlicher Befehl und persönliche Freiheit/öffentliche Unterordnung): wir nennen dies die Dialektik des Rechts. Eigentums- und Vertragsrecht, die auf den Prinzipien des Privatrechts basieren, führen zu Kreditbeziehungen zwischen freien Bürgern, die die einfachen Beziehungen des Güter- oder Gabentauschs („positive Reziprozität“) zwischen Familienangehörigen oder den betrügerischen Tausch zwischen Fremden („negative Reziprozität“) in gesetzlich vollstreckbare, kreditbasierte Geschäftsbeziehungen verwandeln: die westliche Zivilisation insgesamt ist folglich „made in law“.

Inhärente Kreditinstabilität, der Staat-Markt-Zyklus und die Teil-Ganzes-Dialektik

Kreditbasierte Märkte sind an sich instabil, weil Forderungsrechte nominal fixiert sind, während Eigentumsrechte im Hinblick auf erwartete zukünftige Erträge ständig neu bewertet werden. Im Rahmen der resultierenden Kreisläufe von Kredit-Expansion (Boom) und -Kontraktion (Bust/Finanzkrise), pendelt das hybride System zwischen zwei Polen: Markt/Privatrecht/Deregulierung auf der einen und Staat/Öffentliches Recht/Regulierung auf der anderen Seite.

Stephan Schulmeister und George Soros beschreiben dieses Pendeln detailliert: Die Vorherrschaft der Märkte während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurde abgelöst von einem starken Trend hin zu einer Vorherrschaft der Prinzipien des Öffentlichen Rechts. Zu nennen sind der New Deal in den USA, das Aufkommen des Faschismus in Europa und die Keynesianische Epoche nach dem 2. Weltkrieg, die bis zum Ende des Bretton-Woods-Systems im Jahre 1971 andauerte. Danach, mit der monetaristischen Attacke Milton Friedmans auf den Keynesianismus, begann eine Pendelbewegung „zurück“ zur Vorherrschaft von Markt und Privatrechtsprinzipien, welche bis zur sog. „Finanzkrise“ im Jahr 2008 führte. Am Horizont ist eine weitere Pendelbewegung, wieder mehr auf die staatliche Seite hin, deutlich zu erkennen. Es werden Schwächen in staatlichen Strukturen wieder als eine Ursache internationaler Probleme erkannt, weshalb nun erneut der Ruf nach „Institutionen“ und Staatsbildung ertönt.

Modezyklen in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

Den hybriden und zugleich widersprüchlichen – und somit dialektischen – Charakter der Grundstrukturen der westlichen Zivilisation – Privatrecht/Markt/Business vs. Öffentliches Recht/Staat/Politik – zu erkennen, ist sehr hilfreich die verschiedenen Prinzipien zu verstehen, denen individuelle Geschäftsstrategien einerseits und die Wirtschaftspolitik andererseits folgen müssen. Wenn zudem die Zentralbank als die Verkörperung der Dialektik und damit als die zwischen privater und öffentlicher Kreditgeldschöpfung vermittelnde Institution erkannt wird, dann wird klar, dass die jeweils angewandte Wirtschaftspolitik Ergebnis des öffentlichen politischen Prozesses ist und daher niemals „alternativlos“ sein kann. So wird auf einfache Art und Weise deutlich, dass private Interessengruppen Wirtschaftstheorien als rhetorische Waffen benutzen, um Diskurshoheit und damit Macht über die (Wirtschafts-)Politik der Regierungen ausüben zu können, indem die öffentliche Meinung durch Kampagnen und die Politiker durch Lobbyarbeit entsprechend beeinflusst werden. Diese Einsicht wiederum hilft die Modezyklen in der Wirtschaftstheorie verstehen: von klassicher Ökonomie (bis ca. 1867) zum Marxismus (ab 1867 – ca. 1900), zu neoklassischer Ökonomie (ca. 1900 – 1936), zum Keynesianismus (ca. 1936 – 1975) zurück zur neoklassichen Ökonomie (ca. 1975 bis heute), hin zu … etwas, das sich derzeit in der Entwicklung befindet.

“Die Wissenschaft von der Wirtschaft war schon oft in der Krise. Vor allem immer dann, wenn sie wegen unbefriedigend empfundener gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen zu Rate gezogen wurde. Triumphe feierte sie dagegen immer, wenn sie den „Beweis“ dafür erbrachte, dass das, was vorherrschende öffentliche Meinung ohnehin war, eine zutreffende Beschreibung der erlebbaren Wirtschaftswirklichkeit sei. Wenn also die Wirtschaftswissenschaft wie andere Wissenschaften eine Magd ist, dann hat sie nicht die Fackel vorangetragen, damit sich die Wirtschaft in ihrem Licht orientieren konnte, sondern umgekehrt: Sie hat die „Konditionalsätze“ geliefert, die es der Mehrheit in der Gesellschaft erlaubte, was sie ohnehin tat, als vernünftig zu begreifen.“

„Die Wirtschaftswissenschaft war in diesem Sinne bislang immer „politische“ Ökonomie. Sie war es aber in einem anderen als dem gewöhnlich vermuteten Sinne: Die Akteure im Wirtschaftsgeschehen haben zur Absicherung ihrer Vorhaben unter den verfügbaren wirtschaftstheoretischen Ansätzen den gefördert, der ihre Absichten wissenschaftlich stützte. Vorrang unter den Wirtschaftstheorien erhielt auf diese Weise diejenige, die die Meinungen der jeweiligen Mehrheitsparteien am besten gerecht werden konnte. Das erklärt ihre temporäre Konjunktur und Krise (d.h. nach der ersten Weltwirtschaftskrise im Jahre 1857, Marxismus; von ungefähr 1900 bis zur Great Depression, neoklassiche Ökonomie; nach der Great Depression der 1930er Jahre, Keynesianismus; von Mitte der 1970er Jahre bis ungefähr 2008 Neoklassische Ökonomie; jetzt sind wir inmitten eines anderen „Paradigmenwechsels“, Anm.d.Verf.). Die Theorie findet Akkzeptanz, so lange sie Umstände rechtfertigt, die nach der Meinung einer Mehrheit in einem Gemeinwesen als wirtschaftlich erfolgreich bewertet werden. Sie scheitert, wenn dies nicht zutrifft.“ (Stadermann/Steiger, “Schulökonomik”, 2001, 13)

Die Ideologie, die unter der Bezeichnung Monetarismus seit den 1970er Jahren vorangetrieben wurde, beinhaltet, dass die Zentralbank unter allen Umständen unabhängig sein muss, der Fokus nur auf Geldwertstabilität gelegt wird und dass ein Regierungshaushalt wie ein privater Haushalt geführt sein muss. Mit obiger Einsicht wird der Monetarismus als Teil des Machtplans erkennbar, der entworfen wurde, um die politische Macht von Arbeiterparteien, die am Ende der 1960er Jahre einen Höhepunkt erreichte, einzuschränken. Dieses neue wirtschaftspolitische Regime, das auch antistaatliche Deregulierung, Privatisierung und eine erzwungene Sparpolitik beinhaltete, führte schrittweise zur Version des Finanzkapitalismus des 21. Jarhunderts. Jenes Regime mit massiver Umverteilung von unten nach oben, das letztendlich im Jahr 2008 zusammenbrach und nun ein geisterhaftes Nachleben einer globalen Bankrottokratie führt – immer am Rande eines weiteren Zusammenbruchs bei im Kern weiterhin unveränderter Wirtschaftspolitik.

Vielleicht hilft die Einsicht in diese Zyklik sogar, den Wechsel von Regierungsformen erklären zu können. Jenen Wechsel, den Polybios als Verfassungskreislauf beschrieben hat, und der in Teilen auch in Francis Fukuyamas neuestem Buch “Political Order and Political Decay“ zu finden ist.

Die heutige Herausforderung: Eine neue internationale Ordnung

Eine der Herausforderungen heute ist es, eine Wirtschaftsordnung zu entwickeln, die nicht nur den Interessen der oberen 5% der Bevölkerung dient (wie im Neoliberalismus), sondern den Interessen der restlichen 95%. Um dies zu erreichen, bedarf es nicht nur einer soliden rechtlichen und institutionellen Grundlage für eine heterodoxe monetäre Makroökonomie, sondern auch eine große Veränderung der politischen Strategie: einen Richtungswechsel der Umverteilung, von von unten nach oben hin zu von oben nach unten, und zudem eine Reduzierung der großen internationalen Leistungsbilanz-Ungleichgewichte. Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen heißt es gibt Nettogläubiger- und Nettoschuldner-Positionen, welche finanziert werden müssen. Die Finanzierungsnotwendigkeit bestehender internationaler Leistungsbilanzungleichgewichte ist eine sehr einfache, aber oft übersehene Erklärung für die „Finanzialisisierung“ und den Aufstieg der Weltfinanzindustrie. Die altertümliche Lösung, die das hebräische Recht  für die Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern vorsieht, wurde als Jubeljahr bezeichnet – eine vernünftige Alternative zu einem Zusammenbruch des Weltfinanzsystems, aber eine große Herausforderung für nationale politische Institutionen, weil starke Konkurrenzparadoxa überwunden werden müssen, um international wirksam zusammenarbeiten und einheitlich entscheiden und handeln zu können. Zudem sind die Interessengruppen, die aufgrund einer solchen Zusammenarbeit sehr große Verluste einstecken müssten, sehr mächtig und verfügen über großen politischen Einfluss. Direkt nach der Finanzkrise im Jahr 2009, blitzte die Erkenntnis über die Konsequenzen internationaler Leistungsbilanzungleichgewichte kurz bei Entscheidungsträgern auf, von denen viele zu einer Reorganisation des internationalen Finanzsystems im Sinne der Vorschläge von Keynes, die er in Bretton Woods im Jahre 1944 vorstellte, aufriefen, nur um dieses Aufblitzen eine historische Sekunde später wieder durch nationalstaatliches „business as usual” zu ersetzen.

Eine weitere große Herausforderung stellt sich uns jetzt nach der Finanzkrise im Jahr 2008, nämlich, wie sich transnational mobile Konzerne mit nationalen – und damit immobilen –  Rechtssystemen überhaupt regulieren lassen.

Diese könnten nur auf supranationaler Ebene verläßlich reguliert werden, denn einzelne Staaten sehen sich in der Standortkonkurrenz mit anderen Staaten oft gezwungen, sich den Interessen dieser Konzerne zu beugen. IWF, die Weltbank und die UN sind jedoch keine staatlichen Institutionen. Demzufolge ist es ein notwendiger Schritt in Richtung einer neuen internationalen Finanzordnung, den Para-Staat EU in einen echten Bundesstaat umzuwandeln.

Das kann aber kein bloßes „weiter so“ auf dem Weg sein, der durch wirklichkeitsfremde Wirtschaftswissenschaft seit dem Jahre 1992 vorgezeichnet wurde. Eine ernsthafte Angleichung der Rechtssysteme und Institutionen hätte einer Vergößerung der EU vorausgehen müssen. Diese Angleichung wurde nicht gemacht, die Integration und Vergrößerung der EU wurde viel zu schnell vorangetrieben. Die Eurozone, an der nicht alle EU-Staaten teilnehmen, ist eine Konstruktion, die sich auf eine fehlerhafte Wirtschaftstheorie stützt und deshalb so nicht überleben kann. Die Eurozone und die EU waren in einer wirtschaftswissenschaftlichen, theoretischen Sackgasse und haben sich deshalb in eine praktische Sackgasse hinein manövriert. Was benötigt wird, ist eine grundlegende Neubetrachtung, und eine realistische Strategie, die sich auf realistische Ökonomie, basierend auf Recht, einzel- und gesamtwirtschaftlicher Buchhaltung und Saldenmechanik sowie monetärer Makroökonomie stützt.

Es gibt eine weitere Herausforderung, die wahrscheinlich noch größeren Ausmaßes ist: die Herausforderung, Jahrzehnte des Scheiterns in Entwicklungshilfe und Entwicklungsökonomie aufzuarbeiten und Entwicklungsländern einen praktisch gangbaren Weg zu einer modernen Wirtschaft zu zeigen. Eine moderne Wirtschaft kann wohl nur so anfangen wie sie in Europa, der Wiege des Kapitalismus, auch angefangen hat: durch Staatsbildung. Eine bloße internationale Schulden-Restrukturierung, ohne eine Strategie zur Bildung funktionierender Staaten, könnte zu einer thematischen Wiederholung der selben Entwicklungsfehler der letzten 40 Jahre führen.

Europa sieht sich einer höchst komplexen Kombination an Herausforderungen gegenüber und muss sich über die eigenen Grundlagen klar werden, um so die Fähigkeit zu entwickeln diesen einen Schritt voraus zu sein um diese Herausforderungen bewältigen zu können. Um sie überhaupt aufspüren zu können, braucht Europa eine Neue Europäische Politische Ökonomie, die sich fest auf ein klares Verständnis der rechtlichen Konzepte und Institutionen stützt, die die Grundlage westlicher Zivilisation und ihre Beziehung zu „Wirtschaft“ und „Politik“ bilden. Die europäische Herausforderung ist eine doppelte: es ist nicht nur eine große Veränderung der Wirtschaftspolitik nötig (wie es der Fall in den 1930er Jahren war), sondern zudem eine ernsthafte Institutionenbildung vonnöten, in einzelnen Gliedstaaten wie auch die gesamte Union betreffend. Keynesianer und Postkeynesianer nehmen die letztere Herausforderung noch immer nicht wahr und verbleiben damit auf dem Weg der paradigmatischen Selbstausgrenzung.

Die falsche Richtung, die die EU und die Eurozone eingeschlagen haben, und die tiefgreifend unzusammenhängende Reaktion auf die Finanzkrise im Jahre 2008, beruhen auf mangelndem gesamtwirtschaftlichen Verständnis. Postkeynesianer betonen diesen Punkt völlig zurecht. In der postkeynesianischen Analyse fehlen die institutionellen Unzulänglichkeiten der Eurozone und der EU als Ganzes deshalb, weil die verwendeten Modelle eine solide rechtliche und institutionelle Basis vermissen lassen.

Unser Ziel ist es, eine solide rechtliche und institutionelle Basis für monetäre Makroökonomie zu schaffen, um über die analytischen Werkzeuge zu verfügen, die nötig sind um die Krise der Eurozone und der EU als Ganzes verstehen zu können. Nur so können wir in die Lage kommen eine vernünftige Strategie zu entwickeln, die beides enthält: eine massive Veränderung der Wirtschaftspolitik (wie sie die Postkeynesianer korrekterweise fordern) und zudem ernsthafte Staats- und Institutionenbildung.

Die Herausforderung ist groß und noch nicht viele Menschen erkennen sie in ihrem gesamten Ausmaß. Die großen weiteren Herausforderungen in den Bereichen Demographie, Familie, Migration und Gewalt, denen Europa in den nächsten Jahrzehnten ebenfalls gegenüberstehen wird, haben wir dabei noch nicht einmal angerissen.

Aber wir müssen die Herausforderungen annehmen und der erste rationale Schritt ist, unsere eigene Wahrnehmung zu klären. Dazu wollen wir trennscharfe Begriffe und integrativere und angemessenere Konzepte benutzen, die beim Recht beginnen und dieses systematisch mit monetärer Makroökonomie und Finanzierung mittels der Rechnungslegung und der Saldenmechanik verbinden.

Das ist unser Ziel. Als ersten Schritt haben wir unsere Ideen auf dem 2016 Symposium on Property Rights of the World Interdisclipinary Network for Institutional Research in Bristol, das vom 4. bis 6. April 2016 statt fand, präsentiert. Hier noch einmal die Videos unserer Präsentationen:

Systematische rechtliche Grundlagen monetärer Makroökonomik – ein wichtiger Schritt in Richtung eines neuen Paradigmas für politische Ökonomie

Warum Vermögen nicht aus Dingen besteht, warum Kaufen nicht gleich Bezahlen ist und warum ein neues makroökonomisches Paradigma beide mikroökonomischen Einsichten berücksichtigen muss

Wir laden Sie ein mit uns in Dialog zu treten und hoffen auf Ihre Unterstützung, Kritik und allgemeines Feedback. Herzlichen Dank!

2 Kommentare

  1. Nur ein technischer Hinweis:
    „Forwärtsbewegung“ ist nicht von forward abzuleiten sondern von vorwärts und muss daher
    „Vorwärtsbewegung“ heißen.

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